Die Utikal- Küster von Hussinetz (siehe auch www.hussinetz.de)

von Dr. Hans-Dieter Langer, Niederwiesa

Am 30.01.1892 starb in Hussinetz Heinrich Benjamin Utikal. Er wurde den 2. Februar 1892 in allen Ehren auf dem Alten Friedhof an der Marien-Kirche begraben. Sichtlich betroffen schrieb der amtierende Pfarrer des Kirchspiels Hussinetz, Josef Chlumsky (1874-1910), die folgenden Bemerkungen in das Kirchenbuch: „Küster d.i Kirche, Diener bei der hiesigen Kirchengemeinde, welcher über 56 Jahre, seit 1835, diesen Dienst versehen hat. Ehre seinem Andenken!“ Nach so vielen Dienstjahren darf man „an Schwäche“ sterben, denn der Beruf des Kirchendieners war nicht leicht. Er hatte ja zunächst unter anderem die Funktion des Bestatters inne und musste auch anderweitig kräftig mit Hand anlegen, denken wir nur an das Schneeschieben im umfänglichen Kirchengrundstück. Auch waren vor jeder Kirchennutzung viele Vorbereitungen durchzuführen, die Kirche und der Friedhof auch anderweitig sauber zu halten, Büroarbeiten und Besorgungen fällig und, und, und ... 

Die im Zeitraum 1750 bis 1900 über 30.000 in den Kirchenbüchern vermerkten Seelen der Parochie sind jedenfalls alle irgendwie durch die Registratur der Utikal-Küster von Hussinetz gen Himmel gefahren. Kein Wunder also, dass die Gemeinde von Anfang an neben dem Pfarrer den Küster brauchte. Da das Pfarrhaus aus historischen Gründen, siehe Bild 1, ein wenig abseits lag, musste man auch an die Sicherheit von Gotteshaus und Gottesacker denken. 

Altstadtgrenze

Bild 1: Der ursprünglich in tschechischer Sprache beschriftete Lageplan zeigt die Altstadt von Strehlen, in deren Zentrum die Marien-Kirche vor 800 Jahren im Alten Friedhof platziert worden ist. Unmittelbar daneben befindet sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das Küster-Grundstück der Hussinetzer Parochie, während der zugehörige Pfarrhof aus historischen Gründen ziemlich weitab auf der anderen Straßenseite gelegen ist. Die aktuellen Fotos belegen noch immer die fiktive Grenze zwischen ländlichem und urbanem Fleur in Höhe des einstigen Utikal-Anwesens.

Also lag es nahe, diese Aufgabe mit der Vergabe eines unmittelbar benachbarten Grundstückes zu verbinden. So kam es, dass der Küster näher zu den Heiligtümern einzog als der Geistliche. Damit war freilich auch die Entscheidung für jene einzigartige funktionale Familiendynastie zu Hussinetz gefallen: Sämtliche Küster hießen Utikal, und zwar Dank einer ungebrochenen männlichen Linie seit der Dorfgründung im Jahr 1749 bis zum Untergang der Kirchengemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg! 

Um dies nachzuvollziehen, begeben wir uns nun zurück in die Gründerzeit von Dorf und Kirchengemeinde, die von böhmischen Emigranten hussitischen Glaubens geprägt worden ist. Die Wahl auf (oder Bewerbung um) den Posten des Küsters der am 8. Juni 1949 von ihnen in Gnaden Friedrichs des Großen evangelisch-reformiert geweihten Marien-Kirche in der Altstadt zu Strehlen ist möglicherweise auf folgenden Eintrag im ersten Kirchenbuch zu Jan Utikal, eben einem jener Hussinetz-Gründer, zurück zu führen: „(geboren) um 1702 in Bradla, Pfarrei Libice bei Chotebor. Der Bezugsschwerpunkt liegt natürlich auf „Pfarrei“. War Jan Utikal der Sohn des dortigen Pfarrers? Wohl eher nicht in Anbetracht der damaligen Gründe für die Emigration. Doch ist ein solcher Eintrag zur Herkunft einmalig im Hussinetzer Kirchenbuch und muss zu denken bzw. sollte einst Anlass zu Archivrecherchen vor Ort in Tschechien geben. Benannt sind zu J. Utikal I. (die römischen Zahlen, wie üblich, zur Unterscheidung von Generationen bei gleichem Vornamen) freilich gleich drei Örtlichkeiten: Libice, heute 50 km südwestlich von Prag; Bradla (Bradlo), 6 km östlich von Jihlava bzw. ca. 100 km südöstlich von Prag; Chotebor auf halber Strecke zwischen Jihlava und Hradec Kralove und (Horni) Bradlo, das noch einmal etwa 12 km in Richtung auf das einstige Emigrantenzentrum Hradec Kralove liegt. Zudem wurde Jan Utikal I. als Gastwirt von Beruf geführt. War er in der Heimat oder nun schon in Hussinetz als solcher tätig? Wir wissen es nicht. Gleichwie, er und seine auch in Böhmen geborene Frau Katerina (1711-1788) wohnten von Anfang an auf dem Kirchengrundstück in Strehlen-Altstadt und dürften schon deshalb die Küsterarbeit ausgeführt haben. Dafür fehlt aber jeglicher Hinweis im Kirchenbuch, was unter anderem den Querelen um den ersten Pfarrer, Wenceslaus Blanicky, geschuldet sein mag.

Aber schon Jan Utikal II. (1749-1805), der vierte, übrigens noch in Münsterberg geborene Sohn, wurde nach dem Begräbnis von Jan Utikal I. am 28. Januar 1805 mit dem Eintrag „Ehemann Küster kostelnik cyrkwe Stellenbesitzer“, also gleich in deutscher und tschechischer Sprache (kostelnik cyrkwe = Küster der Gemeinde) gewürdigt. Er starb freilich bald am „Schlagfluss“. Schlaganfall mit 56 Jahren? Das ist doch auch nicht gerade ein Zeichen für ein geruhsames Leben. Seine (zweite) Ehefrau, Alzbeta (1765-1851), geb. Hlawacek, überlebte Jan II. ganze 46 (!) Jahre. Die am 24. Juni 1746 ebenfalls in Münsterberg geborene erste Frau Marye, geb. Heiczmann, starb bereits nach 11 Ehejahren am 4. Juli 1784 bei der Geburt ihres 6. Kindes. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch vier der gemeinsamen Kinder - eines davon dieses Baby und die anderen zwei- bis neunjährig - so dass Jan II. erneute Hochzeit schon am 19. Oktober 1784 mit Alzbeta verständlich erscheint. Zu allem Kirchendienst noch ein Baby, die Hausarbeit und die Kindererziehung, das wäre sicher nicht gut gegangen, so dass man auf ein Trauerjahr keine Rücksicht nahm, ja nicht einmal die vom König für Preußen verordneten maximal 6 Monate in Anspruch genommen hat. Der Küster musste nämlich inzwischen auch als Stellenbesitzer, sprich Bauer, für den Lebensunterhalt der wachsenden Familie sorgen: Alzbeta brachte immerhin noch drei Kinder zur Welt, von denen allerdings nur Carl Friedrich (1793-1837) überlebte, der später Landwehrmann geworden ist. Inzwischen wuchs jedoch der 6jährige aus erster Ehe heran: Johann Gottlieb (1778-1832).

Überhaupt, die Utikals waren für Hussinetzer Verhältnisse eine vornehme Familie, die sich bestimmt ansonsten eisern an die gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit hielt. Man möchte sich daher fragen, warum nicht dem ältesten Sohn des Gründervaters Jan Utikal I., Vaclav Utikal (Lebensdaten unbekannt), die Ehrenaufgabe des Küsters zuteil wurde. Nun, der wurde „Kretschmer“, also Gastwirt, womit er offenbar besser auskam als mit den damaligen bescheidenen Tantiemen eines Küsters. Zudem scheint er nach Friedrichstabor ausgewandert zu sein, denn seine Kinder kamen in Milentschin zur Welt. Ansonsten verliert sich seine Spur. Der drittgeborene Bruder war sogar zu noch höherem geboren, denn er wurde „Kirchenvorsteher (=) konsel“ der Parochie Hussinetz! Er war also die zweite Autorität in der Gemeinde nach dem Pfarrer. Setzen wir den beruflichen Aufstieg nach dem 20. Lebensjahr, also etwa nach 1755 an, so amtierte inzwischen Samuel Figulus (1724-1771) auf dem höchsten Posten, den die Hussinetzer Gemeinschaft zu vergeben hatte. Wenn uns dessen Pastoren-Vorgänger, der ewig umstrittene Wenceslaus Blanitzky (Amtszeit: 1749-1754) nicht im verständlichen Frust den zweiten Band seiner Hussinetz-Chronik vorenthalten hätte, wüssten wir sicher mehr über die Vorgeschichte der Küster und Vorsteher. So bleibt vorerst vieles im Dunkeln, und es lockt uns nur die Hoffnung, dass eben einst durch Recherchen im Ursprungsland Böhmen ein aufhellendes Lichtlein weiter führt. Die Familiengeschichte des Franc Utikal - seine Frau Marie (1731-1809), geb. Schwarz, gebar in den Jahren 1762 bis 1779 insgesamt neun Kinder - wäre jedenfalls sicher im Alltag und Durchschnitt der böhmischen Exulanten aufgegangen, wenn nicht dieser schreckliche Mord geschehen wäre. Am 15. Oktober 1809 wurde nämlich die längst verwitwete Stellenbesitzerin Marie Utikal zu Grabe getragen, „welche in der Nacht vom 11. zum 12. ist auf eine gewaltsame Weise von mörderischen Räubern, welche durch ein Stubenfenster in ihre Wohnung sich eingedrungen haben, des Lebens beraubt worden“, so heißt es jedenfalls im Kirchenbuch. Sämtliche späteren Berichte zu Hussinetz - auch die Hussinetz-Chronik des Heymann Ehrlich(1780-1873), des Großvaters vom berühmten Strehlener Medizin-Nobelpreisträger Paul Ehrlich (1854-1915) - haben dieses furchtbare Ereignis übersehen bzw. verschwiegen, doch klärt uns die einschlägige Strehlener Chronik wenigstens ein wenig auf: „Seit Ausbruch des Krieges (Napoleon!) Ende August 1806 bis 10. April 1808 sind in Strehlen (und natürlich in den umliegenden Dörfern) 53.300 Mann einquartiert gewesen, ... In ganz Schlesien spricht man von dem Unglück, das gerade Strehlen durch wiederholte Plünderungen, Feindesbelieferungen und Einquartierungen betroffen hat. ... Die Bevölkerung verarmt immer mehr. ... Statt Tabak rauchen die Männer Huflattich.“ Obgleich Mordfälle selbst in der bewegten Geschichte der Stadt sehr selten vorgekommen sind, wurde zum Jahr 1808 obendrein noch folgendes berichtet: „Am 1. November wird im Woiselwitzer Kretscham während der Kirmes bei einem Streit ein Böhmischer von einem französischen Hautbisten (Oboenbläser) erstochen.“ Diese aufmüpfigen „Bimschen“! Auch der Mord an Marie wurde nie aufgeklärt, jedoch kommen wohl in Frage französische oder deutsche Militärs im Sold Napoleons sowie die regionale Armut in deren Gefolge, und dann auch noch politische Turbulenzen, denn der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. verfügte auf Geheiß von Napoleon Ende November 1808 die Entlassung seines bis dahin so erfolgreich das Chaos ordnenden Chefministers, des Baron vom Stein. Man kann natürlich nur eingrenzend vermuten, denn die Strehlener Chronik klärt zum Stand vom Jahresende 1808 noch etwas mehr auf: „Rückblickend ist den Franzosen zu bescheinigen, dass sie sich in schroffen Gegensatz zu den Württembergern und Bayern als Einquartierung gegenüber der Bevölkerung in Strehlen und den böhmischen Dörfern im großen ganzen gesittet benommen haben.“ Indirekt kann man andererseits schließen, dass es den „Räubern“ bekannt gewesen sein muss, wo noch etwas zu holen war in dieser vollkommen verarmten Gegend. Nicht unerwähnt bleibe also in diesem Zusammenhang (insbesondere mit Blick auf den gesellschaftlichen Status der Utikal´s), dass eine Tochter von Franc und Marie Utikal, Alzbeta (1774-1808), laut Kirchenbuch die Ehefrau des „Erbschmidt und Gerichtsscholze“ zu Oberpodiebrad, Johann Gottlob Sangkohl (geb. 1775), geworden ist. Die Utikals gehörten jedenfalls zweifelsfrei zu den Begüterten unter den Exulanten-Nachkommen, und wir stellen zudem bezüglich der Örtlichkeit fest, dass Marie in Strehlen-Altstadt ermordet wurde, also genau dort, wo die Küster neben der Kirche wohnten. 

Der Eigentümer dieses Anwesens wurde aber jetzt Johann Gottlieb Utikal (1778-1832), der seit dem Tode seines Vaters im Jahr 1805 auch das quasi erbliche Küster-Amt übernommen hatte („Beruf: Stellenbesitzer Küster Häusler“). Leider konnte auch er sich nicht lange am Eheglück mit seiner ersten Frau, Marye Alzbeta (1778-1807), geb. Fanta, erfreuen, denn sie ist nur sieben Jahre nach der Hochzeit im Alter von nur 29 Jahren „2 Stunden nach der Geburt des toten Sohnes (5. Kind) gestorben, mit diesem im gleichen Grab und Sarg beigesetzt“. Zu allem Unglück sind auch die anderen vier Kinder dieses Paares nicht älter als 2 Jahre geworden. Erinnert sei allerdings daran, das Marye´s Vater, Stepan Fanta (1723-1799), „Kirchenältester“ der Hussinetzer gewesen ist. Johann Utikal achtete somit bei seiner Brautwahl durchaus darauf, dass standesgemäß geheiratet wurde. Jedenfalls ließ auch er sich dahin gehend nicht durch den plötzlichen Tod seiner ersten Frau am 15.09.1807 beirren, denn ihr Grabhügel verriet noch die Frische der Erde als schon am 15. November 1807 erneut geheiratet worden ist. Schließlich hatte es ihm sein Vater, Jan Utikal II., vorgemacht, wie man im Trauerjahr diesbezüglich entschlossen handelt. Diesmal reichte eine Anna Rosina Knaureck (1788-1865) - die Knorrek´s stellten später unter anderem den Bürgermeister von Hussinetz - die Hand. Na, und deren Vater? Dieser Bürger von Hussinetz in zweiter Siedlergeneration, Matej Knaurek (1746-1795), war zwar Stellenbesitzer - wie anfangs fast alle Männer - doch eben auch der „Gerichtsschöppe“ des Dorfes. Dieser Schwiegervater übte also eine der honorigsten weltlichen Funktionen aus, die hier seinerzeit zu vergeben waren. Ob Johann in diesem Fall so schnell zuschlagen musste, um sich erneut eine stattliche Mitgift zu schnappen, bevor es ein anderer tat? Und hieß es nicht zudem in Heymann Ehrlich´s Chronik „Die weibliche Bevölkerung (von Hussinetz) ... fast alle schöne Gestalten ...“? Es mag jedenfalls wie eine glückliche Ehe klingen, wenn man von sieben Kindern in den folgenden 17 Jahren berichten kann, doch scheint halt die 7 ein böses Omen zu sein: Zwei Kinder, zudem behindert, starben mit 5 bzw. 7 und zwei mit 11 Jahren! Was das zu bedeuten hat, wenn man die ersten vier Kinder in diesem blühenden Alter verliert, kann wohl nur der ermessen, der dies selbst durchmacht. Insofern kann man das Ehepaar nur bewundern, dass es noch weiteren drei Nachkommen das Leben schenkte (er ab dem Alter von 40, sie mithin zwischen dem 30. und dem 36. Lebensjahr).

Damit trat nun auch jener zu dieser Zeit einzige überlebende Stammhalter der Utikal´s, Heinrich Benjamin (1818-1892), in den historischen Kern der sprichwörtlichen Hussinetzer Gemeinschaft, mit dem wir uns eingangs beschäftigten. Für ihn sollte somit der obige legendäre Vermerk im Kirchenbuch gelten, der hier noch einmal zitiert sei: “Küster d.i Kirche, Diener bei der hiesigen Kirchengemeinde, welcher über 56 Jahre, seit 1835, diesen Dienst versehen hat. Ehre seinem Andenken!“ Dieser kommentative Sonderstatus im Buch aller Hussinetzer Bücher übertrug sich scheinbar sogar noch auf eine seiner zwei Schwestern, Maria Charlotta (1820-1888), denn zum 14. Februar 1888 steht da geschrieben: „(pani Turinska) , Beim Tode vermerkt: Ma verna pritelkyne - meine treue Freundin“. Korrekt, sie hatte zwar einen Turinski geheiratet, aber war das nicht im Kirchenbuch die Handschrift des Pfarrers? Na ja, auch der durfte doch eine Freundin haben, zumal an die ausdrücklich erwähnte Treue erinnert wurde, worunter mit Sicherheit die stete Unterstützung gemeint sein dürfte, die Maria dem Geistlichen bei der Ausübung seiner vielfältigen Tätigkeiten im Dienst der schnell wachsenden Gemeinde oblagen. Die Handschrift verrät uns damit so ganz nebenbei die deutschen und tschechischen Sprachkenntnisse des Pfarrers (Josef Chlumsky), die man beide zur optimalen Seelsorge im Hussinetzer Kirchspiel wohl sogar noch am Übergang zum 20. Jahrhundert und eigentlich auch noch später dringend benötigte.

Familiär ergibt sich hier übrigens plötzlich für den Autor eine bemerkenswerte Querverbindung. Der Küster Heinrich Benjamin Utikal ehelichte nämlich am 15. November 1840 in Hussinetz die Anna (1821-1902), geb. Taraba. Verfolgt man die Genealogie dieser Frau noch in die Zeit zurück, da ihre Vorfahren (und eben auch die des Autors mütterlicherseits) noch in Böhmen lebten, so kommt man anhand von Recherchen in Tschechien (vielen Dank Pavel Taraba!) auf einen genetisch gemeinsamen Ursprung: Mikulas Taraba I. und Dorota aus Nedeliste (sonstige Daten unbekannt). Deren Sohn Mikulas Taraba II. (1720-1797), verließ fluchtartig gemeinsam mit seiner Schwester Maria (1719-1795) - sie ist des Autors Urmutter - die ostböhmische Heimat und wurde so ein Mitbegründer von Hussinetz. Hier versah Mikulas Taraba die in der Gründerzeit so ungemein bedeutungsvolle Rolle eines Dorfrichters in Podiebrad („rychtar=Richter Wirth Eigentümer Stellenbesitzer“). Auch betätigte er sich demnach als einer der ersten Gastwirte der Gemeinschaft. Aus seiner Ehe gingen in dieser Reihenfolge Großvater und Vater von Anna Utikal hervor: Jiri Taraba I. (1749-1808) und Jiri Taraba II. (1774-1855).  Die Wege dieser Stellenbesitzer führten vom Geburtsort Hussinetz über Ober-Podiebrad letztlich nach Strehlen-Altstadt. So konnte Heinrich Benjamin seine Anna kennen lernen. Man ging dann gemeinsam nicht nur die vielen Jahre im Dienst an der Gemeinschaft auf, sondern auch im stattlichen Zeitraum von 1841 bis 1863 bezüglich der Nachwuchsförderung (9 Kinder!) ans Werk. Doch erst ganz zuletzt, nämlich am 23. Februar 1863 wurde der nächste Küster der Dynastie geboren: Wilhelm Traugott (1863-1918). Der Erstgeborene, Heinrich Traugott (1841-1911), neigte offenbar mehr zum handwerklichen Beruf: Er wurde Maurer. Und die vielen Utikal-Mädchen? Na, die kamen damals keinesfalls als Küsterinnen in Frage!

Nun trat im Februar 1892, nach dem Tod seines Vaters, Wilhelm Traugott Utikal im 
29. Lebensjahr die Küster-Nachfolge an. Bei seinem Ableben im Jahr 1918 sollte es übrigens im Kirchenbuch lauten: “Hausbesitzer und Küster Weber Inlieger Häusler“. Diese Anmerkungen erzählen gleich seine ganze Lebensgeschichte. Der Besitz von Haus und Hof neben der Marien-Kirche, legte ja nun schon seit Generationen die berufliche Funktion fest. Mit der Feldarbeit hatte der Küster von Hussinetz nichts mehr zu tun, denn schon seit Großvaters Zeiten entfiel die ebenfalls traditionelle Rolle des bäuerlich tätigen Stellenbesitzers. Traugott war also quasi „nur“ noch Hausbesitzer, was ja zu einem modernen Küster wohl passen mochte, doch scheint der berufliche Ertrag nicht mehr genügt zu haben, um die Familie zu ernähren. Die am 26. Mai 1889 geheiratete Anna Rosina (1866-1939), geb. Peter, stammte zwar aus der Peter´schen Bauernwirtschaft in Nieder-Podiebrad, doch war da außer einer standesgemäßen Mitgift nicht mehr drin, denn Anna´s väterliches Anwesen musste dort bereits auf zwei Brüder aufgeteilt werden. Man stellt jedenfalls fest, dass sich Wilhelm Utikal, der Küster, auch als Weber betätigte und zudem als Familienoberhaupt nur drei Kinder „zuließ“, obgleich davon nur zwei überlebten. Bei näherem Hinsehen stellt sich diese bedächtige Familienplanung am Ausgang des 19. Jahrhundert durchaus als zeitgemäße Verhaltensweise dar. Es handelt sich nämlich nicht um ein singuläres, sondern um ein allgemeines Phänomen. Wie man anhand der Taufen-Statistik der gesamten Hussinetzer Gemeinschaft in Bild 2 erkennt, waren daran alle böhmischen Dörfer beteiligt. 

Taufstatistik

Bild 2: Für Taufen und Beerdigungen zeigt sich für Hussinetz ein unerwartetes Maximum für den Zeitbereich von 1890-1900. Danach fällt deren Anzahl bis 1945 deutlich ab, und die kriegsbedingten zusätzlichen Einschnitte nach 1914 sind in allen drei Diagrammen gut zu erkennen. (Das Diagramm erstellte D. Kühne anhand der Hussinetzer Kirchenbücher.)

Der familienpolitische Wenig-Kinder-Trend wurde sogar fast überall in Deutschland zeitgleich aufgegriffen und ist natürlich eine Folge der Industrialisierung. (Später kamen noch die medizinischen Fortschritte vor allem bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten hinzu, doch um das Jahr 1900 deuteten sie sich erst an, nicht zuletzt durch einen Mann aus der Mitte von Strehlen/Hussinetz: Paul Ehrlich.) Es ist eben auch hier die Zeit, da in Hussinetz die als Buntweberei bekannte Fabrik im Jahr 1895 entscheidend erweitert und vor allem mechanisiert worden ist. Es kann zwar sein, dass der Küster Wilhelm Traugott Utikal in dem ganz nahen Betrieb - der Arbeitsweg wäre nur die kurze Strecke über den Pilzberg-Hügel gewesen - seinen Weber-Nebenberuf ausübte, doch viel wahrscheinlicher sind noch der private Webstuhl im Küster-Haus zu Strehlen-Altstadt und die Lieferung von Fertigwaren an die Fabrik. Die gesellschaftliche Zäsur hatte jedoch auch ihn mit allen Nebenwirkungen erreicht.

Als WilhelmTraugott Utikal am 8. Juli 1918 in Hussinetz während einer Grippewelle im besten Mannesalter „an Herzlähmung“ starb, mag er sicher lieber einem voll erwachsenen Sohn den Kirchenschlüssel in die Hand gegeben haben wollen, doch sein Rudolf Traugott war nun einmal erst 20 Jahre alt. Er war zunächst nicht einmal persönlich anwesend, denn er hatte sich als 17-Jähriger freiwillig (!) an die Front des Ersten Weltkrieges gemeldet. Mit viel Mühe und Engagement gelang es der Mutter immerhin, dass Rudolf tatsächlich Urlaub bekam und zu Hause am Begräbnis teilnehmen konnte. Irgendwie hatten also beide Glück, der Sohn vielleicht zu jung, der Vater auf jeden Fall zu alt … für Kanonenfutter im 1. Weltkrieg. (Das Hussinetzer Kriegerdenkmal enthält gemäß Bild 3 an 100 Namen der sinnlos Gefallenen.) 

Kriegerdenkmal

Bild 3: Das von der polnischen Verwaltung mit Unterstützung der Bundesheimatgruppe Stadt und Landkreis Strehlen restaurierte und mit einem polnischen Text ergänzte Denkmal erinnert an die zahlreichen im 
1. Weltkrieg gefallenen Hussinetzer (im Foto die Ehefrau des Autors, Ellentraud Langer).

Jedenfalls wird wohl die Witwe Anna Rosina einstweilen die Küsterdienste mit übernommen haben, freilich, sicher nicht ohne die tatkräftige Hilfe des noch eher jugendlichen Rudolf. Dafür vermied Anna Rosina´s Lebensweg gerade mal so jeglichen Kontakt mit dem Elend des 2. Weltkrieges und seinen schrecklichen Folgen für die Marien-Kirche und ihre Glaubensgemeinde, indem sie am 16. Juli 1939, nun aber bereits „an Altersschwäche“ 
verstarb. Da hatte aber Rudolf Utikal das Küster-Szepter längst sicher in der Hand, und zwar noch in treuen Diensten des in der Hussinetzer Parochie beliebten Pfarrers Heinrich Duvinage (1911-1943).

Psalmbuch

Bild 4: Dieses böhmische Psalmen- und Liederbuch hat die Anna Rosina Utikal (1866-1939), geb. Peter, ein Leben lang begleitet. Die Kinder und Enkel haben es über die Wirren des Zweiten Weltkrieges und über die schlimme Zeit der Vertreibung aus Schlesien sowie über die vielen Jahre der existentiellen Erneuerung in Sachsen bewahrt und der Nachwelt erhalten. Nun wartet es mit anderen wertvollen Exponaten, die die Utikal-Familie zur Verfügung gestellt hat, auf einen würdigen Platz in der Hussinetz-Abteilung des hoffentlich bald kommenden Heimatmuseums Strehlen/Strzelin - Husinec/Hussinetz/Friedrichstein/Gesiniec. 

Die Lebensgeschichte des Rudolf Traugott Utikal soll uns in einem nächsten Beitrag beschäftigen, denn er war ultimativ „Der letzte Küster von St. Marien“.


Anmerkung des Autors: Die Stadt und der Landkreis Strzelin/Polen planen den Wiederaufbau des Rathauses mit Mitteln der Europäischen Union, das dann ausschließlich musealen und anderen kulturellen Anwendungen dienen soll. Hiermit seien daher alle Heimatfreunde aufgerufen, dieses Projekt - wie auch immer - zu unterstützen. Stellen Sie doch zum Beispiel einfach alle die lieben Erinnerungsgegenstände (das können auch Fotos, Familienchroniken, persönliche Erinnerungstexte, Bücher … sein), die Sie aus der Heimat und über die Zeiten bewahrt haben, per Nachlassverfügung bereit! Die Spender werden selbstverständlich namentlich in den Fundus eingegliedert. Für Rückfragen steht der Autor gern zur Verfügung: Talstr. 53, 09577 Niederwiesa, Tel. 03726/721826, E-Mail langer@drhdl.de. Je größer die Beteiligung, desto besser ist es für das Vorankommen des Projektes, insbesondere in Polen. Der Autor bereitet zudem in seiner Internet-Seite www.drhdl.de das Virtuelle Hussinetz-Museum vor, da genügen einstweilen auch Fotos und Kopien der Exponate, die Sie zur Verfügung stellen.